Dekan Volkhard Guth
„Widersprechen und Räume zum Diskurs schaffen“
Dekan Volkhard Guth spricht im Interview über Montagsspaziergänge, Impfen und Demokratie im Evangelischen Dekanat Wetterau und was gesellschaftlich jetzt dran ist.
Herr Guth, die sogenannten Montagsspaziergänger treffen sich zu ihren Protesten oft an Kirchengebäuden, zum Beispiel an der Dankeskirche in Bad Nauheim oder an der Stadtkirche in Friedberg. Wie sehen Sie diese Proteste?
Volkhard Guth: Kirchen stehen in der Regel zentral in unseren Städten und Dörfern und häufig an einem Platz. Insofern bieten sie sich als Treffpunkte an. Wenn sich dort Menschen treffen, die der Pandemie und dem Impfen kritisch gegenüber stehen, dann nehmen wir das zur Kenntnis. Es ist in einer Demokratie möglich, seine Meinung zu äußern. In Bad Nauheim ist der Platz vor der Kirche öffentlicher Raum. Er gehört uns nicht. Die Schwierigkeit, die ich mit diesen Veranstaltungen habe, ist, dass sie absichtsvoll provozieren wollen und sich dabei in einem rechtsfreien Raum wähnen.
Das Wort „Spaziergänge“ ist doch ein albernes Sprachspielchen. Natürlich sind das unangemeldete Demonstrationen. Und die Teilnehmenden verstoßen wissentlich gegen geltende Regeln und missachten Gesetze – und sie nötigen uns, indem sie in den Verkehr eingreifen. Sie unterstellen dem Land und der Politik antidemokratisch zu sein, ignorieren aber selbst alle demokratisch legitimierten Regeln und Gesetze. Meinungsäußerung geht anders.
Gibt es Ihrer Meinung nach durch das Coronavirus und die damit verbundenen Regeln eine Spaltung der Gesellschaft und trägt die evangelische Kirche zur Spaltung bei, wenn sie sich so positioniert? Solche Vorwürfe kommen ja aus verschiedensten Ecken.
Guth: Es gibt schon seit den frühen 90ern tiefe Risse, die durch unsere Gesellschaft gehen und die von der Politik in weiten Teilen ignoriert oder billigend in Kauf genommen wurden. Ich erinnere nur an das Thema Ost-West, an unterschiedliche Lohn- und Rentenniveaus, an eine immer massiver werdende Spaltung in arm und reich. Es gibt ein starkes Stadt-Land-Gefälle bei infrastrukturellen Themen und auch die Generationenungerechtigkeit, auf die Fridays for Future hinweist. Das sind Risse in unserer Gesellschaft, die je länger je mehr zu Spaltungen und zur Erosion demokratischer Kultur führen. Die Unzufriedenheit, das Gefühl ausgeliefert zu sein und angesichts all dessen auch nichts mehr tun zu können, wurde durch jede Krise der letzten 3 Jahrzehnte verschärft. Und das erleben wir gerade wieder.
Die evangelische Kirche und mit ihr die Diakonie haben mindestens genauso lange darauf hingewiesen, dass in den genannten Gesellschaftsbereichen strukturelle Ungerechtigkeit herrscht und Vorschläge zur Besserung gemacht. Wenn wir jetzt für Impfschutz plädieren, hat das aber ganz andere Gründe: Es geht uns um den Schutz des Lebens.
Schließt die evangelische Kirche in der Wetterau nicht geimpfte Menschen aus?
Guth: Klares Nein. Es gibt 2G-, 3G- und Open-Air-Veranstaltungen, die mit Abstand und Maske für jeden zugänglich sind. In kleinen Räumen oder bei großen Festtagen müssen die Kirchengemeinden die Besucher aber schützen. Und zwar alle und so gut wie möglich. Da ist der dreifache Impfschutz zurzeit die beste Wahl. Dabei denken wir auch an die Hauptamtlichen, die sich immer neu einer großen Zahl von Personen aussetzen müssen.
Warum werben die evangelischen Kirchen und auch das Dekanat Wetterau für eine Impfung?
Guth: Genau aus dem Grund. Das Leben ist doch eine Gemeinschaftserfahrung. Wir merken doch gerade, wie sehr uns das Miteinander fehlt, wo wir einander nicht oder nur unter restriktiven Bedingungen begegnen können.
Der Glauben sucht Gemeinde. Wir wollen weiterhin Gottesdienste feiern. Und das geht alles nur, wenn wir achtsam sind füreinander. Es geht eben nicht bloß um mich und mein Bedürfnis, sondern auch um den anderen. Wenn wir einander schützen wollen und uns irgendwann auch wieder normal begegnen wollen, dann halten wir auf dem Weg dahin die Impfung für angemessen. Außerdem sehen wir die vielen Gefährdeten, die Alten und Kranken. Sollten wir die nicht so gut es geht schützen?! Ich könnte jetzt auch die Worte Nächstenliebe und Barmherzigkeit anführen.
In der Bibel lesen wir viele Geschichten und Zeugnisse davon, dass Jesus sich den Ausgegrenzten, den Menschen am Rand der Gesellschaft zuwendet. Tut die evangelische Kirche das denn heute nicht mehr?
Guth: Doch. Deshalb müssen wir auch differenzierter auf die Situation und auf die Beweggründe der Menschen schauen. Eines eint alle Corona-Montagszüge: Sie sind uneinheitlich. Die Menschen gehen aus ganz unterschiedlichen Motiven mit. Auf der einen Seite ist das klare kirchliche Plädoyer „Lasst euch impfen!“. Auf der anderen Seite nehmen wir auch diejenigen wahr, die offensichtlich Angst haben und Zukunftssorgen. Ich meine jetzt nicht die rechten Demokratieverächter und Neofaschisten. Ich rede von denen, die meine Nachbarn sein könnten und die in unseren Gemeinden vorkommen. Menschen, die Angst haben, dass das Leben an ihnen vorbei zieht. Die sich entmündigt oder abgehängt sehen, die unzufrieden sind mit dem, was sich ihnen bietet und was sie erleben. Das äußert sich dann bisweilen auch in Wut. Als Kirchen müssen wir diese Menschen und ihre Sorgen wahr- und ernstnehmen, sie hören und mit ihnen im Gespräch bleiben. Da geht es doch um Lebensängste und die Frage, woher Hoffnung kommt. Dazu hat die christliche Botschaft und das Evangelium definitiv etwas zu sagen! Denjenigen heilen und verbinden, der unter die Räuber gefallen ist. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist nur ein Beispiel.
Und das müssen wir auch im Gespräch mit den politisch Verantwortlichen einfordern: Nehmt das nicht hin. Denkt und gestaltet Politik von den Rändern her.
Sie haben kürzlich bei einer Solidaritäts-Veranstaltung in Friedberg gesagt „Freiheit heißt Verantwortung übernehmen“. Was meinen Sie damit?
Guth: Wie ich es sage. Die Coronaprotestler nehmen für sich den Freiheitsbegriff in Anspruch. Bisweilen beschleicht mich aber das Gefühl, dass es alleine um das Recht auf die eigene Freiheit geht. Freiheit gibt es nicht ohne Verantwortung – für mich und für andere. Das weiß jeder, der sich ins Auto setzt, sich angurtet und losfährt.
Was ist Ihrer Meinung nach gesellschaftlich jetzt dran?
Guth: Wir brauchen eine Verständigung darüber, was unser Zusammenleben trägt und künftig ausmachen soll. Das heißt zuallererst grundsätzlich und immer allen Demokratieverächtern von rechts, wie sie auch bei den Corona-Protesten mitgehen, zu widersprechen. Wer in unserem Land das Wort „Diktatur“ in den Mund nimmt, dem rate ich dringend ein Gespräch mit Geflüchteten zu suchen, die aus Diktaturen geflohen sind, und deren Geschichte zu hören. Wir müssen wieder über unterschiedliche politische Sichtweisen ins Gespräch kommen. Wir brauchen die Einsicht, dass die Demokratie die Form des Zusammenlebens ist, die allen dient. Dafür müssen wir sie schützen und auch an ihr arbeiten. Und das heißt auch, dafür zu sorgen, dass sie nicht bloß als Markt und Ermöglichungsrahmen wirtschaftlicher Interessen begriffen und benutzt wird. Wir müssen wehrhafter werden – auch in diese Richtung. Auch die Pandemie beschert einigen wenigen unvorstellbar hohe Gewinne. Schaffen wir es, solche Gewinne auch so zu nutzen, dass sie der Gesellschaft zugutekommen?! Vielleicht ist die Kurzform meiner Antwort auf Ihre Frage: nicht da weitermachen, wo wir vor Corona waren.
Und was ist dabei für Kirche zu tun?
Guth: Wir wollen Räume eröffnen, um die eben genannten Diskurse in einem guten und geschützten Rahmen zu führen. Und wir erinnern uns und andere dabei hoffentlich an all die guten und tragfähigen Bilder unserer eigenen Tradition. Bilder von gelingendem Leben, von Gerechtigkeit, Frieden und Achtsamkeit. Unsere Bibel ist voll davon. Und wir möchten an der einen oder anderen Stelle zeigen, dass und wie es geht. Das gilt auch – oder gerade – in Pandemiezeiten.
Was empfehlen Sie den Kirchengemeinden im Evangelischen Dekanat Wetterau in der aktuellen Situation konkret?
Guth: Sprechen Sie mit den Menschen, haben Sie ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Ängste. Aber positionieren Sie sich gleichzeitig klar gegen jede Form von Demokratiefeindlichkeit. Gehen Sie zu Gegenveranstaltungen und zeigen Sie: Wir sind mehr