75 Jahre Evangelische Kirche in Hessen und Nassau
Von Kirchenpräsident Dr. Dr. h.c. Volker Jung
Es war eine aufwühlende Zeit. Deutschland lag noch in Trümmern. Da machten sich im Herbst 1947 Delegierte aus dem gesamten Kirchengebiet nach Friedberg auf. Am 30. September 1947 wurde dort die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) gegründet.
In der Friedberger Burgkirche fasste ein sogenannter „Kirchentag“ folgenden Beschluss: „Der Kirchentag der Evangelischen Kirche in Hessen, Nassau und Frankfurt bestätigt den Zusammenschluss der Evangelischen Kirchen im Gebiet der früheren Landeskirche Nassau-Hessen kirchlich und rechtlich. Die Kirche trägt den Namen: Evangelische Kirche in Hessen und Nassau. Der Kirchentag tritt als verfassungsgebende Synode zusammen.“ Das hatte eine Vorgeschichte: 1933 hatten die Nationalsozialisten die drei ehemals selbstständigen Kirchen zwangsweise vereinigt. Bald war klar, dass an dem Zusammenschluss festgehalten werden sollte. Es sollte aber auch etwas Neues beginnen: So wurde aus dem früheren Nassau-Hessen „in Hessen und Nassau“. Wegweisend waren hier diejenigen, die in der Bekennenden Kirche engagiert waren und sich dem Nazi-Regime widersetzt hatten, allen voran Martin Niemöller. Er wurde am 1. Oktober 1947 zum ersten Kirchenpräsidenten gewählt. Zwei Jahre später beschloss die Synode eine Kirchenordnung, mit der vieles auf den Weg gebracht wurde, was die EKHN bis heute prägt.
Die EKHN ist eine Kirche, die ihre Strukturen bewusst von den Gemeinden her aufbaut. Sie setzt darauf, dass viele Menschen gemeinsam Kirche gestalten und leben – in der gottesdienstlichen Feier, im Zusammenwirken von Ehren- und Hauptamtlichen, in demokratischen Entscheidungsprozessen und in gemeinschaftlich wahrgenommener Leitung.
Viele Infos und Materialien zum Jubiläum: https://www.ekhn.de/75Jahre
Die EKHN ist eine vielfältige und offene Kirche. Von Anfang an war klar, dass die verschiedenen evangelischen Bekenntnisse (lutherisch, reformiert, uniert) in ihr Platz haben sollen. Diese spielen heute weniger eine Rolle. Trotzdem gibt es unterschiedliche Glaubensprofile – von pietistisch-erweckter Frömmigkeit bis hin zum linksprotestantischen Aktivismus, selbstverständlich mit vielem dazwischen und in variantenreichen Mischformen. Das Miteinander und auch das Ringen verschiedener Positionen haben den Weg der EKHN geprägt. Außenstehende beschreiben sie deshalb manchmal als ein wenig chaotisch. Diejenigen, die mit der EKHN gut vertraut sind, schätzen ihre Liberalität und Dialogoffenheit. Das hat sich besonders gezeigt in ihrer weltweiten ökumenischen Orientierung, in ihrem Eintreten für den jüdisch-christlichen und interreligiösen Dialog und in ihrem gesellschaftspolitischen Engagement.
Die EKHN ist eine Kirche, die sich immer weiterentwickelt. Ende der 60er Jahre begann die EKHN in besonderer Weise auf die gesellschaftlichen Veränderungen zu reagieren. Ein Leitgedanke dabei war: Weil Menschen immer individueller ihr Leben gestalten und weil die Gesellschaft sich immer weiter ausdifferenziert, müssen Kirche und Diakonie vielgestaltiger werden. Da ist vieles gut gelungen und zukunftsweisend.
Und heute? Gesellschaftliche Trends sind nicht einfach veränderbar. Deshalb müssen wir uns darauf einstellen, eine Kirche mit weniger Menschen zu sein. Ich sehe das aber zuversichtlich: Wir müssen manches anders machen und organisieren, aber wir werden weiter viel gestalten können. Die EKHN hat in den vergangenen 75 Jahren aus der Kraft des Evangeliums gelebt. Und sie wird dies weiter tun. Die EKHN wird auch als kleinere Kirche weiter kraftvolle Kirche in der Nachfolge von Jesus Christus sein und so für die Menschen und für die Gesellschaft da sein.