Andacht am Ostersonntag

Der folgende Text ist ein Ausschnitt aus der Andacht, die Pfr. M. Neugber am Ostersonntag (4.4.21) in der Evangelischen Martinskirche in Petterweil gehalten hat.

Lesung aus dem Evangelium des Lukas, Kapitel 24

Es begab sich zu der Zeit, als der erste Tag der neuen Woche angebrochen war, da nahmen die Frauen in aller Frühe die Salben, die sie zubereitet hatten, und gingen damit zum Grab. Da sahen sie, dass der Stein, mit dem man den Eingang des Grabes verschlossen hatte, weggewälzt war. 

Sie gingen in die Grabkammer hinein, aber der Leichnam von Jesus, dem Herrn, war nirgends zu sehen. Während sie noch ratlos dastanden, traten plötzlich zwei Männer in hell leuchtenden Gewändern zu ihnen. Die Frauen erschraken und wagten nicht aufzublicken. Doch die beiden Männer sagten zu ihnen: »Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier; er ist auferstanden. Erinnert euch an das, was er euch gesagt hat, als er noch in Galiläa war: ›Der Menschensohn muss in die Hände sündiger Menschen gegeben werden; er muss gekreuzigt werden und wird drei Tage danach auferstehen.‹«

Da erinnerten sich die Frauen an jene Worte Jesu. Sie kehrten vom Grab in die Stadt zurück und berichteten das alles den elf Aposteln und allen anderen Jüngern. Bei den Frauen handelte es sich um Maria aus Magdala, um Johanna und um Maria, die Mutter des Jakobus. Zusammen mit einigen anderen Frauen, die bei ihnen gewesen waren, erzählten sie den Aposteln, was sie erlebt hatten. Aber diese hielten das alles für leeres Gerede und glaubten ihnen nicht.

Petrus allerdings sprang auf und lief zum Grab. Er beugte sich vor, um hineinzuschauen, sah aber nur die Leinenbinden daliegen. Voller Verwunderung ging er wieder fort.

Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden. Hallelujah

Erzählung: ein Hauch von Leben: Eine fast alltägliche Auferstehungsgeschichte

Nach einer Erzählung v. U.Berg in: Andere Zeiten 1/12 S. 20f.) 

Ihr Herz rumorte, als die Fahrstuhltür sich öffnete. Sie zögerte. Dann spürte sie die Hand ihres Mannes im Rücken, die sie sanft nach vorne schob. »Komm.« Sie verließen den Fahrstuhl und gingen schweigend den Flur entlang, an dessen Ende sich auf Knopfdruck eine weiße Tür öffnete. 

Heiße Luft schlug ihnen entgegen. Aus der Ferne hörte sie das vielstimmige Piepen der Monitore. Der Geruch von Sterilium stieg in ihre Nase. Ein paar Schritte später standen sie in einem kleinen Raum. 

»Das ist sie«, sagte er leise und liebevoll. Stolz schwang in seiner Stimme mit. Ungläubig starrte sie auf den gläsernen Kasten. Für einen Moment versagten ihre Beine, und er musste sie stützen. »Es ist so warm hier«, sagte sie entschuldigend. Er zog einen Stuhl heran und drückte sie sanft hinein. 

Ihr Blick war immer noch starr auf den Kasten aus Plexiglas gerichtet. Da lag etwas, ein Hauch von Leben, zugedeckt mit einem gelben Waschlappen, angeschlossen an unzählige Schläuche und Geräte. 

Sie wollte wegsehen, aber sie konnte nicht. Sie war wie gelähmt. »Ist sie nicht wunderschön, unsere Tochter?«, hörte sie den Mann hinter sich fragen. Sie schwiegen lange. Dann räusperte er sich: »Ich hol uns mal ein Glas Wasser.«

Sie war allein. Allein mit ihrem Kind. Da lag es. Wenige Zentimeter vor ihr – und doch meilenweit von ihr entfernt. Du darfst dich nicht verlieben, diktierte sie lautlos ihrem Gehirn. Du darfst dich nicht verlieben, dann tut es nicht so weh, wenn du es verlieren wirst. Ein Gefühl von Verzweiflung kroch in ihr hoch und schnürte ihr fast die Kehle zu. 

»Rühr mich nicht an.« Sie sagte es ganz leise. Dann wieder: »Bitte, rühr mich nicht an.« Und lauter: »Rühr – mich – nicht – an!« 

»Öffnen Sie ruhig die Grifflöcher!« Die freundliche Stimme hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken. »Hallo, ich bin Schwester Claudia. Herzlichen Glückwunsch zur Geburt Ihrer Tochter!« Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft löste sie den Blick von ihrem Kind und schüttelte die Hand, die sich ihr entgegenstreckte. »Sehen Sie?« Die Frau im weißen Kittel klappte zwei kreisrunde Fenster auf, die sich in der Wand des Inkubators befanden, steckte durch jedes einen Arm und legte eine Hand fest auf den Kopf des Säuglings, die andere drückte sie sanft gegen die Beine. »Sie braucht jetzt viel Körperkontakt, um zu überleben.«

Sie reagierte nicht, saß immer noch reglos da. »Geben Sie mir Ihre Hand. Sie müssen keine Angst haben!«, sprach Schwester Claudia ihr Mut zu. Zögernd erhob sie sich und trat nahe an den Inkubator heran. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Du musst das jetzt tun, dachte sie. Du bist doch ihre Mutter. 

Langsam schob sie die Arme durch die Löcher, wie Schwester Claudia es ihr vorgemacht hatte. Als sie den Kopf ihres Kinder berührte, erschrak sie fast – so weich war die Haut, so warm. Die kleinen fisseligen Haare kitzelten ihre Handflächen. 

Für einen Moment gab sie sich dem Gefühl von Zärtlichkeit hin, das in ihr aufstieg. Dann besann sie sich und schloss einen Pakt mit ihrem frühgeborenen Kind: Ich gebe dir all meine Wärme. Ich streichle dich stundenlang. Ich berühre dich, sooft du dich danach sehnst. Aber: Bitte, rühr mich nicht an! Denn wenn du mich anrührst und mich dann verlässt, sterbe ich mit dir.

Dann spürte sie, wie sich der Boden unter ihren Füßen zu drehen begann. »Mein Kreislauf«, murmelte sie. »Ich muss zurück in mein Zimmer.« 

Draußen ging das Leben in normalem Tempo weiter, sie lebte fortan in Zeitlupe. Gedämpft, wie unter einer Käseglocke. Aber sie funktionierte. Tag für Tag. Wenn die Schwestern ihr das Kind auf den Bauch legten, streichelte sie es, sprach mit ihm und sang ihm Frühlingslieder vor. Lieder von Neubeginn und vom Erwachen der Natur. »Alles wird gut«, sagten die Ärzte. »Ihre Tochter entwickelt sich prächtig.« »Das ist schön«, sagte sie und meinte es auch so. 

Warum sie keine wahre Freude empfand, wusste sie nicht und schämte sich dafür. Oft lag sie stundenlang in ihrem Bett auf der Wöchnerinnenstation. Sie hörte das Schreien der neugeborenen Säuglinge, die in den Nebenzimmern von ihren Müttern versorgt wurden, und starrte gegen die Zimmerdecke. Manchmal klopfte es. Das Essen wurde gebracht, der Blutdruck gemessen.

Diesmal betrat eine Frau das Zimmer, die sie vorher noch nie gesehen hatte. »Hallo. Ich habe in dieser Woche Stationsdienst und wollte mal nach Ihnen schauen. Ich habe schon gehört, dass es Ihrer Tochter sehr gut geht. Das freut mich!« 

»Mir geht es nicht gut«, hörte sie sich sagen und erschrak unwillkürlich. Ich sollte mich schämen, dachte sie. Mein Kind kämpft tapfer ums Überleben, und ich denke nur an mich. Keine Regung im Gesicht der Frau, die sich jetzt ihrem Bett näherte, die Decke zur Seite schob und sich auf der Bettkante niederließ. Sie lächelte. Dann sagte sie leise, aber mit fester Stimme: »Manchmal werden wir vor Aufgaben gestellt, die uns Angst machen. Sie müssen aufstehen.« 

Sie saßen noch ein Weilchen zusammen, dann erhob sich die Frau und verließ wortlos das Zimmer. Und ich kenne noch nicht mal ihren Namen, dachte sie. 

Aufstehen. Ich muss aufstehen. Das Neue annehmen. Kraftvoll. Hoffen. Aber wie kann ich das?

Viel zu schnell sprang sie aus dem Bett. Die Narbe in ihrem Bauch versetzte ihr einen stechenden Schmerz. Für einen Moment rang sie nach Luft. Dann schlüpfte sie hastig in Bademantel und Pantoffeln und eilte durch die Gänge. 

Als sich die Tür der Frühchenstation mit dem üblichen leisen Klingeln öffnete, hob die Schwester, die am Schreibtisch saß, irritiert den Kopf. »Huch, Sie sind zwei Stunden zu früh.« »Ja, aber ich muss zu meinem Kind«, rief sie und fügte im Vorbeilaufen erklärend hinzu: »Ich weiß jetzt, was ich brauche.«

Endlich hatte sie das Zimmer ihrer Tochter erreicht. Für einen Moment hielt sie inne und betrachtete das schlafende Kind. Ihre Augen flossen über vor Liebe. Dann lächelte sie, legte ihre Hände sanft auf den Kopf des Kindes und flüsterte: »Ja, rühr mich an, mein Kind. Ich stehe für dich auf.«

Aufstehen – für andere aufstehen – Auferstehung
– Unser Lebensziel offenbart sich in der ganzen Fülle am Lebensende – also in Gott. 

Zuvor stehen wir im Lichte von Ostern auf in jeden neuen Tag. Und sollen erleben, wie auf einmal so mancher Stein wegrollt und wir neu Ja sagen zu dem, was uns sich als Lebensaufgabe stellt. Und das sind in der Regel Menschen, die uns anvertraut sind, die sich uns anvertrauen, oder die wir uns zu Herzen nehmen, mit den Augen des Herzens und damit erfüllt von Gottes Liebe sehen. Liebe macht nämlich nicht blind, sondern es geht uns wie einst den Frauen am Grab: Uns werden die Augen des Herzens geöffnet für den österlichen Christus, der uns beim Namen ruft und sagt: Seid getrost, ich gehe euch doch voran alle Tage. 

Lied zum Mitlesen: Der schöne Ostertag EG 117

1. Der schöne Ostertag! / Ihr Menschen, kommt ins Helle! / Christ, der begraben lag, / brach heut aus seiner Zelle. / Wär vorm Gefängnis noch der schwere Stein vorhanden, / so glaubten wir umsonst. / Doch nun ist er erstanden!

2. Was euch auch niederwirft, / Schuld, Krankheit, Flut und Beben – / er, den ihr lieben dürft, / trug euer Kreuz ins Leben. / Läg er noch immer, wo die Frauen ihn nicht fanden, / so kämpften wir umsonst. / Doch nun ist er erstanden!

3. Muss ich von hier nach dort – / er hat den Weg erlitten. / Der Fluss reißt mich nicht fort, / seit Jesus ihn durchschritten. / Wär er geblieben, wo des Todes Wellen branden, / so hofften wir umsonst. / Doch nun ist er erstanden! – Erstanden, erstanden, erstanden…

Jürgen Henkys 1983 frei nach dem englischen »This joyful Eastertide« von George Ratcliffe Woodward 1894 und dessen niederländischer Vorlage »Hoe groot de vrugten zijn« von Joachim Frants Oudaan 1684